Helmut Gollwitzer

Auch der Theologe Helmut Gollwitzer (1908-1993) gehörte zu den Freunden Albert Lempps. In seinem Aufsatz »Zwischen den Zeiten«, erschienen in der Festschrift »1845-1970. Almanach« zum 125jährigen Bestehen des Chr. Kaiser Verlags, erinnert er sich an die Anfänge der Beziehung:

»Als Autor bin im Chr. Kaiser Verlag zum ersten Mal aufgetreten, als Merz mich für eine Neuauflage der Schrift von A. Strauch über die Theologie Karl Barths beauftragte, einen bibliographischen Anhang über die in- und ausländische Barthliteratur zusammenzustellen. Der nächste Auftrag wurde schon durch Hitlers Machtergreifung durchkreuzt: eine Rezension von Paul Tillichs Schrift ‚Die sozialistische Entscheidung‘ konnte in ‚Zwischen den Zeiten‘ nicht mehr gedruckt werden. (…) In den nächsten Jahren brachte meine Autorschaft dem Verlag ab und zu Verdruss mit Gestapo und Reichsschrifttumskammer. Albert Lempp war in solchen Fällen immer hoch zu preisen: mit runden, erstaunten Augen konnte er zuhören, wenn man darlegte, weshalb der und jener Satz nicht gemildert werden konnte; dann wagte er es und trat dafür ein und riskierte seinen Verlag und kämpfte klug und fest und mit schwäbischer Schlauheit. So lernten wir Autoren unseren Verleger lieben. Als er vor seinem Tode im Juni 1943 lange bewusstlos lag, hat ihm seine von uns verehrte Frau eine meiner Predigten vorgelesen, in die Bewusstlosigkeit hinein, und als sie endete, kam aus seinem Munde ein deutliches Amen.«

Der Theologe Helmut Gollwitzer wurde am 29. Dezember 1908 im mittelfränkischen Pappenheim als Sohn eines Pfarrers geboren. Schon als Gymnasiast – vermittelt durch seinen Bruder Gerhard, der später Maler und Grafiker wurde – wurde Gollwitzer von der damals neuen Theologie Karl Barths elektrisiert.

Aus einem nationalkonservativen Elternhaus und aus der bündischen Jugend der 1920er Jahre kommend, verabschiedete er sich bald von seinen anfänglichen Sympathien für die »nationale Welle«, die Deutschland erfasst hatte. Seit 1928 studierte er in München Philosophie und lernte dort nicht nur den Studentenpfarrer und Lempp-Mitarbeiter Georg Merz kennen, sondern auch Lempps leitenden Mitarbeiter Otto Salomon.

»Otto Salomon war einer der ersten Dichter, denen ich begegnete, und der erste, mit dem ich befreundet sein durfte«, hat sich Gollwitzer später erinnert. »Auch er hatte wie Merz Sympathien für die nationale Welle der jungen Generation, wogegen ich, von da herkommend, mich gerade davon abgewendet hatte. Der »Fall Dehn« hatte meinen Linksruck noch beschleunigt, und in München fand ich Leute von der SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) und der KAP (Kommunistische Arbeiterpartei), einer kleinen kommunistischen Splittergruppe, die mich zu Ottos Kopfschütteln mehr anzogen als die Bemühungen um die Erneuerung des deutschen Volkstums.«

Seit seinen Anfängen als Student Gollwitzer immer wieder in Lempps Chr. Kaiser Verlag publiziert. Evangelische Theologie studierte er unter anderem in Erlangen bei Paul Althaus und in Jena bei Friedrich Gogarten. Sein wichtigster Lehrer wurde jedoch in Bonn Karl Barth.

Von Anfang an kritisierte Gollwitzer die nationalsozialistischen »Deutschen Christen« scharf. In der Bekennenden Kirche (BK) gehörte er zum Flügel der so genannten »Dahlemiten«, die auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 nicht nur die staatlichen Übergriffe auf die evangelische Kirche, sondern auch die Rassenpolitik des Nationalsozialismus als solche ablehnten. Auch in der Bekennenden Kirche war Judenfeindschaft verbreitet, was Gollwitzer zunehmend kritisierte.

Nachdem Barth den Beamteneid auf Adolf Hitler verweigert hatte und Deutschland verlassen musste, folgte Gollwitzer ihm in die Schweiz und promovierte 1937 in Basel bei ihm mit einer Arbeit über die altlutherische Abendmahlslehre in ihrer Auseinandersetzung mit dem Calvinismus. Damit wurde er zu einem der Wegbereiter der heutigen Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Kirchen der Reformation. In der NS-Zeit hatte seine historisch-theologische Studie große Brisanz, weil sie die theologischen Trennungen zwischen Lutheranern und Reformierten in der Zeit des Kirchenkampfes in Frage stellte und zeigte, dass die evangelische Kirche über konfessionelle Grenzen hinweg hätte mit einer Stimme reden und in einem Geiste handeln können und müssen.

Nachdem Martin Niemöller, eine der prominenstesten Gestalten der BK, im Juli 1937 inhaftiert worden war, übernahm Gollwitzer dessen Pfarrstelle an der Sankt-Annen-Kirche in Berlin-Dahlem. Der Gemeinderat hielt Niemöllers Stelle jedoch frei, so dass Gollwitzer nicht dessen offizieller Nachfolger oder Vertreter wurde. Zudem half er bei der illegalen Ausbildung des theologischen Nachwuchses der Bekennenden Kirche. Seit der Reichspogromnacht 1938 verhalf er vom NS-Regime verfolgten Juden zu Flucht oder Ausreise. Seine Kontakte zu Widerständlern in der Wehrmacht brachten ihm 1940 mehrere Verhaftungen und Redeverbot ein. Da er den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnte, wurde er im Zweiten Weltkrieg als Sanitäter an der Ostfront eingesetzt.

Anfang 1941 verlobte sich Gollwitzer mit der Berliner Schauspielerin Eva Bildt. Weil Eva Tochter einer jüdischen Mutter war, durften die beiden nicht heiraten. Die Briefe, die beide – er an der Front, sie im Berlin des Bombenkriegs – miteinander wechselten, sind jüngst unter dem Titel »Ich will dir schnell sagen, daß ich lebe, Liebster« erschienen. Während sie ihrem Geliebten ihr Leben in Berlin unter den Bedingungen von Verfolgung, Bomben und Zwangsarbeit schildert, berichtet er von der immer chaotischeren Lage an der Front. Die Liebesgeschichte endet tragisch: Als ihr Zufluchtsort Zeesen am 26. April 1945 von der Roten Armee besetzt wird, nimmt sich Eva Bildt das Leben. Helmut Gollwitzer erfährt dies erst später in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft und kam in ein Arbeits- und Umerziehungslager. Über seine Erlebnisse dort schrieb er ein Buch, in dem er sich intensiv mit dem Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung auseinandersetzte: »… und führen wohin Du nicht willst«. Dieser authentische Bericht erschien 1951, wurde rasch ein Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss beschrieb es als »großes geschichtliches Dokument«.

1950 wurde Gollwitzer als Nachfolger Karl Barths ordentlicher Professor für Systematische Theologie in Bonn, wo er bis 1957 lehrte. In diesen Jahren engagierte er sich stark gegen die deutsche Wiederaufrüstung, vor allem gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr im Rahmen der NATO.

1951 heiratete er Brigitte Freudenberg – Tochter eines evangelischen Pfarrers, deren Mutter ebenfalls jüdischer Herkunft war. Von Bonn ging Gollwitzer nach Berlin zurück, weil er den Barth-Lehrstuhl in Basel wegen »Kommunismus-Verdachts« nicht übernehmen durfte. In Berlin lehrte Gollwitzer am neu gegründeten Institut für Evangelische Theologie der Freien Universität und leitete zeitweilig die dortige Kirchliche Hochschule.

Die Wiederbewaffnung und die Atom-Debatte drohten die evangelische Kirche zu spalten: In der Folge wurde Gollwitzer in eine Kommission berufen, die 1959 mit den »Heidelberger Thesen« einen Kompromiss erarbeitete. Darin wurde die »Bereithaltung« von Atomwaffen zur Abschreckung als »noch mögliche christliche Handlungsweise« akzeptiert, sofern die Abschaffung aller Atomwaffen vorrangiges politisches Ziel bleibe. Dies führte entgegen Gollwitzers Absicht nicht zur Überwindung, sondern zur Rechtfertigung des militärischen Abschreckungskonzepts der NATO.

Von Anfang an nahm Gollwitzer regen Anteil an den Anliegen der kritischen Studenten, die er als einer von ganz wenigen Hochschullehrern aktiv unterstützte. Er engagierte sich für die 68er-Studentenbewegung, war befreundet mit Rudi Dutschke und Seelsorger von Ulrike Meinhof, setzte sich gegen Vietnamkrieg und Wettrüsten ein. Obwohl von studentischen Kreisen gern als Vertreter des »Establishments« apostrophiert, wurde er als engagierter Dialogpartner hoch geschätzt.

Gollwitzer starb am 17. Oktober 1993 in Berlin. Sein Grab befindet sich auf dem St. Annen-Kirchhof in Dahlem (Berlin-Zehlendorf). (wp/ms)

Quellen zu Helmut Gollwitzer (1908-1993):